"Autokraten wollen uns ihre verkehrte Welt aufzwingen" – Seite 1
Wir leben in Zeiten, die Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in dieser Serie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Heute antwortet die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sylvia Sasse.
ZEIT ONLINE: Sylvia Sasse, worüber denken Sie gerade nach?
Sylvia Sasse: Ich denke darüber nach, wie uns populistische Politiker und Autokraten gerade ihre verkehrte Welt aufzwingen wollen – und warum so viele Menschen darauf reinfallen.
ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit verkehrter Welt?
Sasse: Damit meine ich einen populistischen Masterplot, der sich gerade überall ausbreitet. In dieser verkehrten Welt behauptet etwa Wladimir Putin, Russland sei eine Demokratie. US-Vizepräsident J. D. Vance sagt, er trete für Meinungsfreiheit ein. Trump versichert, er bekämpfe den Deep State. Und Alice Weidel betont, Hitler sei Kommunist gewesen. Dabei ist jeweils das genaue Gegenteil der Fall. Die verkehrte Welt der Populisten und Autokraten ist eine Erzählung von der Welt, in der alles um 180 Grad gedreht wird.
ZEIT ONLINE: Nun könnte man sagen: Gelogen wurde in der Politik schon immer.
Sasse: Es handelt sich hier aber nicht einfach um eine beliebige Lüge. Bei einer Verkehrung ins Gegenteil projiziert man auf den anderen das, was man selbst tut, während man sich gleichzeitig dessen Begriffe und Symbolik aneignet. Man kann das sehr gut an den Reden Putins sehen. In denen spricht er beispielsweise immer wieder davon, die EU sei eine Diktatur, in der es keine Meinungsfreiheit mehr gebe und überall Zensur herrsche. Bei Russland handele es sich hingegen um eine Demokratie, in der man "die universellen Werte des Friedens, der Gleichheit, der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Freiheit achte" und sich nicht in die Angelegenheiten anderer Länder einmische und das Völkerrecht respektiere. All das, was er selbst ist und tut, überträgt Putin also auf Europa, während er sich das, wofür demokratische Länder in Europa stehen, im gleichen Atemzug sprachlich aneignet. Bei der Verkehrung ins Gegenteil handelt es sich stets um einen performativen Widerspruch: Man tut immer genau das Gegenteil von dem, was man sagt.
ZEIT ONLINE: Dieser performative Widerspruch ist ja meist sehr offensichtlich. Warum verfängt diese Strategie dennoch?
Sasse: Zum einen, weil viele Menschen nur die Reden von Politikerinnen und Politikern hören, ihre Taten aber ausblenden. Zum anderen, weil in den Reden positive Werte adressiert werden, mit denen sie sich identifizieren können. Nehmen Sie als Beispiel die Rede von J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz, in der er davon sprach, sich für Meinungsfreiheit einzusetzen. Da mag man zunächst denken: "Toll, für Meinungsfreiheit bin ich auch!" Aber man weiß dann anscheinend nicht, dass in den USA gerade in republikanisch geführten Bundesstaaten in den letzten Jahren 10.000 Bücher aus den Schulbibliotheken verbannt wurden und die Trump-Administration die Wissenschaftsfreiheit massiv attackiert. Das heißt: Wenn man keinen direkten Realitätsabgleich vornimmt, identifiziert man sich mit solchen Reden und versteht nicht, dass hier im Namen von Meinungsfreiheit gleichzeitig gecancelt und verboten wird. In Ländern wie Russland, wo die Verkehrung ins Gegenteil die einzig verbliebene Erzählung ist und gar keine freien Medien mehr existieren, gibt es indes noch einen weiteren Grund für das Verfangen dieser Strategie.
ZEIT ONLINE: Welchen?
Sasse: Dort hat die Verkehrung ins Gegenteil auch eine moralisch entlastende Funktion. Wenn Putin der russischen Bevölkerung erzählt, er führe einen Verteidigungskrieg gegen die faschistische Ukraine sowie gegen ein imperiales, diktatorisches Europa, können Menschen sich damit identifizieren. Sie müssen dann nicht auf die Straße gehen, um gegen ihre autokratische Regierung zu demonstrieren, sie können ihre ganze Wut gegen Repression, Imperialismus und sogar gegen den Krieg auf Europa projizieren. Die Verkehrung bietet auch die Möglichkeit einer Affektumkehr.
ZEIT ONLINE: Mir fiel kürzlich eine Ausgabe der Ostsee-Zeitung aus der Mitte der Achtzigerjahre in die Hände. In der DDR war die Zeitung SED-nah – und genauso las sich das auch: nur absurde Jubelmeldungen von Rekordernten und Spitzenproduktivität. Dabei wussten seinerzeit ja praktisch alle DDR-Bürger, dass das völlige Verdrehungen waren. Man musste lediglich aus dem Fenster gucken, um die Mangelwirtschaft zu sehen. Müssten deshalb nicht gerade Bevölkerungen, die diesen Zynismus des real existierenden Sozialismus erlebt haben, besonders sensibel für derartige Verkehrungen sein?
Sasse: Ja, man könnte mit Blick auf Russland oder Ostdeutschland meinen, dass die Diktaturerfahrung die Menschen dazu befähigt, solche Verkehrungen als Allererste zu erkennen, sie müssten sofort verstehen, wie sehr Putin oder auch Trump lügt. Denn es stimmt ja: Man hat nicht geglaubt, wenn in der Zeitung stand, dass die Regale voll sind, man konnte schließlich im Konsum sehen, dass dem nicht so war. Aber: Trotz dieser konstitutiven Widersprüchlichkeit hat das System funktioniert. Die Menschen haben in der Verkehrung, die sie erkannt haben, gelebt. George Orwell nannte das die Fähigkeit zu "Doppeldenk". In Bezug auf die Gegenwart scheint aber etwas anderes noch entscheidender.
ZEIT ONLINE: Was?
Sasse: Zu viele Akteure wollen an den Verkehrungen ins Gegenteil mitverdienen, politisch und ökonomisch. Wenn Putin etwa die Propaganda verbreiten lässt, dass ukrainische Flüchtlinge dauerhaft in die deutschen Sozialsysteme einwandern wollten, dann wird das von rechtspopulistischen Kreisen, die von Migrationsangst politisch profitieren wollen, weiterverbreitet. Die gleichen Kreise, allen voran die AfD, kooperieren jedoch mit Putin. Diese Verkehrung wird in der Migrationsdebatte kaum thematisiert: Russland war in den letzten Jahren ein Hauptverursacher von Migration. Sei es durch den Krieg in der Ukraine, durch die massive Repression im eigenen Land, durch das Schleusen von Geflüchteten über die belarussische Grenze in die EU oder die militärische Unterstützung des Assad-Regimes. Überhaupt sind Autokratien und religiöser Fundamentalismus Auslöser und nicht etwa Lösung für Migration.
"Weniger Diskurs, mehr Wirklichkeit"
ZEIT ONLINE: Elon Musk teilte jüngst auf X ein Zitat aus Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, in dem der Philosoph gegen die "Herdenmoral" und zivilisatorische Verweichlichung argumentiert. Musk bezog das auf unsere Gegenwart, in der er eine "selbstmörderische Empathie" erkennt. Dieser Bezug zu Nietzsche, der von der "Umwertung aller Werte" sprach, scheint eine besondere Form der Verkehrung ins Gegenteil: weniger rhetorische Finte als offenes Programm.
Sasse: In seiner Genealogie der Moral spricht Nietzsche von der "Umwertung aller Werte" im Kontext seiner Kritik am Christentum, denn dieses habe zum Beispiel aus der Schwäche eine Tugend gemacht. In rechtspopulistischen Bewegungen, etwa bei der Alt-Right, wird Nietzsche instrumentalisiert. Auch sie sprechen von einer Umwertung der Werte, die sie im linken Spektrum verorten, da fallen dann Sätze wie: Was Linke als Faschismus sehen, ist für uns einfach Freiheit, und was sie Freiheit nennen, ist Faschismus. Sie sprechen offen davon, subversive Taktiken von links gegen diese selbst zu richten. Aber für Nietzsche war Schwäche etwas anderes. Schwäche ist, wenn man reaktiv ist, also man sich nur selbst aufwerten kann, indem man den anderen abwertet. So gesehen ist die Verkehrung ins Gegenteil ein totales Eingeständnis von Schwäche. Etwas Ähnliches sieht man aber auch in Russland.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Sasse: Dort wird natürlich behauptet, im Westen herrsche eine verkehrte Welt. Die russische Propaganda reagiert damit auf die Behauptung, Russland sei wie in George Orwells Roman 1984. Bei Orwell war die Verkehrung ins Gegenteil ja das Merkmal des von ihm geschilderten totalitären Systems. Aber in Russland heißt es jetzt: Orwell habe in 1984 kein totalitäres System wie die Sowjetunion beschrieben, sondern vielmehr die liberalen Demokratien in Westeuropa. Man meint also, dass es die anderen sind, die die Verkehrungen ins Gegenteil betreiben, während man selbst die Dinge nur wieder an Ort und Stelle rücken will.
ZEIT ONLINE: Verkehrungen ins Gegenteil finden sich auch in der Volkskultur, vor allem im Karneval. Dort werden die Narren zu Königen, oben und unten werden vertauscht. Und es scheint auffällig, dass die Autoritären der Gegenwart das Karnevaleske sehr gut beherrschen. Trumps Wahlkampfveranstaltungen wirkten oft wie ein dunkler Zirkus.
Sasse: Dass Politik als Show aufgeführt wird, insbesondere in den USA, gibt es an sich schon lange. Bei Trump steigern sich die Auftritte nun ins Groteske und Peinliche. Mit dem Prinzip des Karnevals hat es jedoch nicht direkt zu tun. Denn bei den Trump-Veranstaltungen spielt das Volk ja nicht König, sondern es ist vielmehr genau umgekehrt: Die Elite führt sich wie das Volk auf. Hier kommt die Subversion eben nicht – wie der Gebrauch des Wortes nahelegt – von unten, sondern von oben. Hier werden nicht die Mächtigen unterwandert, vielmehr gerieren sich diejenigen, die über Macht, Geld und Medienplattformen verfügen, als Opfer eines vermeintlichen Deep State. Auch das ist wieder eine Verkehrung. Denn es sind ja Trump, Musk und Co., die gerade einen Deep State schaffen.
ZEIT ONLINE: Was dennoch rätselhaft bleibt: Wie schaffen es Elon Musk, der reichste Mann der Welt, oder der Multimillionär Donald Trump, sich so erfolgreich als Volkstribune zu inszenieren? Trump wurde immerhin von 77 Millionen US-Amerikanern gewählt.
Sasse: Zum einen gerieren sich diejenigen, die Geld, Macht und Einfluss besitzen, als Dissidenten ihres eigenen Staates und ziehen damit viele von jenen an, die sich ebenfalls als kritische Köpfe sehen. Erstere fordern zwar blinde Gefolgschaft ein, verleihen Letzteren dann aber symbolisch den Stempel eines kritischen Geistes, der alles hinterfragt und für die Meinungsfreiheit kämpft. Es ist eine Umkehrung des Gefühls von Folgsamkeit und Kritikertum, dem man auch auf Veranstaltungen von Verschwörungstheoretikern begegnet. Diese fordern das Publikum ebenfalls zum blinden Glauben auf – im Tausch gegen das Gefühl, die wahren Kritiker zu sein. Es kommt aber noch etwas Zweites, oft Übersehenes hinzu.
ZEIT ONLINE: Und zwar?
Sasse: Man darf nicht vergessen, welche Rolle die fundamentalistischen christlichen Kirchen in diesem Zusammenhang spielen. Ohne die Unterstützung der russisch-orthodoxen Kirche wäre Putin nie so erfolgreich geworden, Ähnliches gilt für Trump und dessen Zuspruch durch die christlichen Fundamentalisten in den USA. Hier finden sich viele Menschen, die ohnehin an sehr fragwürdige Dinge glauben.
ZEIT ONLINE: Man könnte ebenso argumentieren: Die heuchlerische Pseudokritik an der liberalen Demokratie von Putin und Trump verfängt auch deshalb, weil die liberale Demokratie zuletzt tatsächlich zu elitär und unsozial war, sie zu vielen Menschen ein Gefühl der Zurückgelassenheit gegeben und hohe Unzufriedenheit produziert hat.
Sasse: Ich bin auch mit vielem unzufrieden. Nur glaube ich deshalb noch nicht Putins oder Trumps Reden. Was aber stimmt: Die Strategie der Verkehrung ins Gegenteil funktioniert auch deshalb so oft, weil sie ihre Gegner in die rebellische Abhängigkeit zwingt, diese verkehrte Welt permanent wieder zurückzudrehen. Dabei vergessen Letztere, eigene Narrative zu pflegen. Man geht nur noch gegen etwas auf die Straße, nicht für etwas. Aber Demokratie ist aktive Zustimmung. Nehmen Sie das Beispiel von Alice Weidels Aussage, Hitler sei Kommunist gewesen. Man muss daraufhin nicht beweisen, dass Hitler kein Kommunist war, das ist völlig evident. Es reichte völlig, dies als Verkehrung ins Gegenteil zu benennen. Die gesparte Zeit könnte man dafür aufwenden, klarzumachen, welche Politik, welche Zukunftsvision einem selbst vorschwebt. Dem Journalismus kommt in diesem Zusammenhang deshalb eine besondere Verantwortung zu.
ZEIT ONLINE: In welcher Form?
Sasse: Bestimmte journalistische Formate fallen nicht selten auf Verkehrungen ins Gegenteil hinein, weil sie daraus eine Nachricht machen. In manchen Newstickern wird etwa einfach wiedergegeben, was Vance oder Putin gesagt haben. Oder in Überschriften heißt es nur: "Vance kritisiert fehlende Meinungsfreiheit" oder "Vance liest Europäern die Leviten". Das finde ich fahrlässig. Denn Verkehrungen ins Gegenteil sorgen für Schwindel. Viele Menschen sind orientierungslos, weil es ihnen schwerfällt, gleichzeitig den Widerspruch zu erkennen zwischen einer Aussage, mit der sie sich identifizieren, und einer gegenteiligen Realität, über die nicht gleichzeitig ebenfalls berichtet wird.
ZEIT ONLINE: Was schlagen Sie vor?
Sasse: Es braucht eine kritische Reflexion des Journalismus, wie er mit diesen Verkehrungen ins Gegenteil umgeht. Am besten schiene mir: Das Verfahren und seine Funktion benennen, sich aber auch nicht rebellisch an ihnen abarbeiten, weniger Diskurs, mehr Wirklichkeit und eigene Themen setzen.